Klarere Definitionen – Stärkung der Einschätzungsprärogative – mehr Verantwortung/Arbeit beim Arzt – Vorkonsum kein Hinderungsgrund
… zum Bundessozialgericht Kassel, den 11. November 2022 Terminbericht Nr. 43/22 (hier geht’s zum Bericht)
Am 10.11.22 entschied das Bundessozialgericht in 4 Patientenfällen. In den vier Urteilen wurden die Voraussetzungen der Genehmigung vertragsärztlicher Verordnungen von Cannabisblüten durch die Krankenkassen gemäß § 31 Abs 6 SGB V präzisiert:
Erteilung einer Genehmigung
Vertragsarzt (oder der Versicherte) übermittelt an die Krankenkasse den Inhalt der geplanten Verordnung, [§ 9 Abs 1 Nr 3-5 BtMVV] die Arzneimittelbezeichnung, die Verordnungsmenge und die Gebrauchsanweisung mit Einzel- und Tagesdosis und Anwendungsform.
Nach § 31 Abs 6 Satz 2 SGB V kontrolliert die Krankenkassen präventiv, ob die in Satz 1 benannten Voraussetzungen für einen Anspruch des Versicherten auf Versorgung mit Cannabis erfüllt sind.
Schwerwiegende Erkrankung
-> sie lebensbedrohlich ist oder
-> die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigt.
Lebensqualität:
-> die Befriedigung von Grundbedürfnissen selbst zu gewährleisten,
-> soziale Beziehungen einzugehen und aufrechtzuerhalten sowie
-> am Erwerbs- und Gesellschaftsleben teilzunehmen.
-> Nur ärztliche Diagnose reicht nicht aus.
Entscheidend sind:
-> Funktionsstörungen und -verluste,
-> Schmerzen,
-> Schwäche und Hilfebedarf bei den Verrichtungen des täglichen Lebens,
-> Beeinträchtigung der Lebensqualität muss sich durch ihre Schwere vom Durchschnitt der Erkrankungen abheben.
Orientierung an Grad der Schädigungsfolgen (GdS), Grad der Behinderung (GdB)
-> den Bewertungen der Auswirkungen von Krankheiten in der VersorgungsmedizinVerordnung (Teil 2 der Anlage zu § 2 VersMedV).
-> GdS von 50, im Regelfall eine schwerwiegende Erkrankung
-> formelle Feststellung eines GdS oder GdB ist jedoch nicht erforderlich
Einschätzungsprärogative (Begründeten Einschätzung des behandelnden Vertragsarztes)
Allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung
-> gibt es nicht (§ 31 Abs 6 Satz 1 Nr 1 Buchst a SGB V)
-> kann im Einzelfall nicht angewendet werden (nicht vertragen/ erhebliche gesundheitliche Risiken, Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen, unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes nicht zur Anwendung kommen kann (§ 31 Abs 6 Satz Nr 1 Buchst b SGB V).)
-> ist trotz ordnungsgemäßer Anwendung ohne Erfolg.
Inhalt der Begründung:
-> Dokumentation des Krankheitszustandes, bestehende Funktions- und Fähigkeitseinschränkungen, Befundung des Vertragsarztes und ggf. Hinzuziehung von Befunden anderer behandelnder Ärzte,
-> Darstellung der mit Cannabis zu behandelnden Erkrankung(en), Symptome und Behandlungsziel,
-> angewendete Standardbehandlungen und / oder noch verfügbare Standardtherapien, Wirkung, Nebenwirkungen,
-> Abwägung der Nebenwirkungen der Standardtherapie und Neben-, Auswirkungen einer Therapie mit Cannabis.
WICHTIG: Nur Nebenwirkungen, die das Ausmaß einer behandlungsbedürftigen Erkrankung erreichen, gelten als relevant.
Kontraindikation aufgrund vorherigen Suchtmittelkonsums (kein Ablehnungsgrund)
-> genaue Kenntnis vom bisherigen Konsumverhalten,
-> mögliche schädliche Wirkungen des bisherigen Konsums
Vertragsarzt begründet / entscheidet über Kontraindikation, bzw. Vorkehrungen gegen einen Missbrauch
Prognose: Spürbar positive Auswirkung auf den Krankheitsverlauf, auf schwerwiegende Symptome.
-> ursächliche Behandlung der schwerwiegenden Erkrankung, besonders schwere Symptome bzw. Auswirkungen der schwerwiegenden Erkrankung benötigt objektivierbare Erkenntnisse nach wissenschaftlichen Maßstäben, dass die Behandlung im Ergebnis mehr nutzt als schadet.
-> Unterlagen und Nachweise der Evidenzstufen IV und V (2. Kap § 11 Abs 2 Satz 1 Nr 2 der Verfahrensordnung des Gemeinsamen Bundesausschusses)
-> Fallserien und Einzelfallberichte
-> unabhängig von der Schwere der Erkrankung (anders als im Rahmen von § 2 Abs 1a SGB V)
Geprüft werden diese Einschätzungen (Gericht / Krankenkassen)
-> erforderlichen Angaben als Grundlage der Abwägung vollständig und inhaltlich nachvollziehbar?
-> Abwägungsergebnis nicht völlig unplausibel? Weitergehende Prüfung des Abwägungsergebnisses auf Richtigkeit wird ausgeschlossen.
Genehmigung der Verordnung darf nur in begründeten Ausnahmefällen verweigert werden.
-> Krankenkasse ist darlegungs- und beweispflichtig.
-> Einschätzungsprärogative zur Unanwendbarkeit einer Standardtherapie darf hierbei nicht unterlaufen werden.
-> Ausschlussgründe sind daher eher nichtmedizinische Gründe (Unbefugte Weitergabe des verordneten Cannabis an Dritte).
Wirtschaftlichkeitsgebot vom Vertragsarzt einzuhalten!
-> Bei Darreichungsform und der Verordnungsmenge zu beachten.
-> Hier keine Einschätzungsprärogative.
-> Geeignetheit von Cannabisblüten, Cannabisextrakten und Arzneimitteln mit den Wirkstoffen Dronabinol oder Nabilon besteht nur ein Anspruch auf Versorgung mit dem kostengünstigsten Mittel.
-> Trotz Erfüllung der Anspruchsvoraussetzungen kann die beabsichtigte Verordnung verweigert und auf eine günstigere, voraussichtlich gleich geeignete Darreichungsform verwiesen werden.