Die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) ist ein diagnostisches Konstrukt, das seit seiner erstmaligen temporären Einführung im DSM-2 vor ca. 50 Jahren durch zahlreiche Forschungsanstrengungen immer wieder überarbeitet und weiterentwickelt worden ist. ADHS ist eine der häufigsten diagnostizierten Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter. Nach ICD 11 wird es als entwicklungsneurologische („neurodevelopmental“) Störung beschrieben, die über den Entwicklungsverlauf hinweg von früher Kindheit bis ins Erwachsenenalter bestehen bleiben. Im Mittelpunkt steht eine Kernsymptomatik, bestehend aus Konzentrationsschwierigkeiten, erhöhter Impulsivität und motorischer Unruhe. Daneben  gelten als weitere relevante Symptome Schwierigkeiten in der Regulation von Emotionen (Stimmungsschwankungen, Irritabilität).
Von der Aufmerksamkeitsdefizitstörung (ADS) findet eine Abgrenzung durch das fehlende klinische Bild der Hyperaktivität statt, hier findet sich eher verträumt, ängstliches und schüchternes Verhalten.

Die weltweite Anzahl der Krankheitsfälle im betrachteten Teil der Bevölkerung zu einem Zeitpunkt oder während eines bestimmten Zeitraums ist stabil bei Kindern und Jugendlichen mit ungefähr 5%. Bei Erwachsenen ist sie mit ca. 2–3% etwas niedriger. Länderspezifisch und in unterschiedlichen Regionen gibt es abweichende Zahlen, verursacht eventuell durch unterschiedliche kulturelle, schulische Bedingungen oder durch anders strukturierte Gesundheitssysteme, etc. 

Bei ADHS-Betroffenen liegen oft begleitende psychiatrische oder somatische Symptome oder Erkrankungen vor, die zusätzlich eine Beeinträchtigung und Verschlechterung der Lebensqualität verursachen können.

Das Konstrukt wird trotz massiver Forschungsanstrengungen und Erkenntnisse im öffentlichen Diskurs immer wieder angezweifelt, besonders kritisch wird hierbei die Pharmakotherapie der ADHS gesehen. Nach der deutschen S3-Leitlinie ist diese ein möglicher Bestandteil der multimodalen Therapie.

Forschung zur Erblichkeit von ADHS, führten wie bei anderen psychiatrischen Erkrankungen auch zu der Feststellung, dass es sich um einen komplexen Erbgang handelt, der zudem mit vielen anderen Faktoren verbunden ist. Die stärksten Symptomausprägungen stehen dabei eindeutig in einem Zusammenhang mit dem höchsten genetischen Risikostatus und es gibt Überlappungen mit anderen Störungsbildern, wie dem Autismus-Spektrum-Störung oder Schizophrenie.

In der funktionellen Bildgebung zeigen sich Unterschiede im Gehirn, im Vergleich zu neurotypischen Kontrollprobanden und auch im Elektroenzephalogramm (EEG) von Kindern treten oft Hinweise auf eine Reifungsverzögerung auf. Erste Vorläufersymptome einer ADHS können z. B. erhöhter Irritabilität, geringes Schlafbedürfnis und vermehrtes Schreien bei Säuglingen und Kleinkindern sein, allerdings ist die Diagnose erst ab dem 3 – 4 Lebensjahr, dann auch nur als vorläufig und mit Vorsicht zu betrachten, möglich. 

Während der Entwicklung hin zum Erwachsenen verbessert sich die Symptomatik häufig und bleibt nur bei 25% in stark einschränkender Symptomatik bestehen.

Sinnvoll erscheint hier ein Umdenken in der wissenschaftlichen Diskussion der letzten Jahre, bei der man immer mehr vom Begriff der Störung hin zu einer (häufig) von der Norm abweichenden Entwicklungsform des Gehirns und daraus resultierend des Denkens handelt. Dadurch können auch positive Aspekte (Kreativität, Spontaneität, Bewegungsfreude etc.) in den Fokus genommen werden.

Da es aktuell und wohl auch in Zukunft eher keine spezifischen Biomarker für ADHS gibt, muss eine klinische Diagnose mit einer detaillierten Beurteilung aktueller und früherer Symptome sowie ein Nachweis erheblicher Funktionsbeeinträchtigung in unterschiedlichen Lebensbereichen erhoben werden. Daneben bedarf es einer pädiatrisch/neurologischen Untersuchung sowie der Erhebung eines psychopathologischen Befundes zur Abgrenzung/Einordnung möglicher Differenzialdiagnosen oder auch begleitender vorhandener anderer psychischer Erkrankungen.

Zur Einschätzung des Entwicklungsstands und insbesondere vor einer pharmakologischen Behandlung ist eine körperliche und neurologische Untersuchung unerlässlich. Verschiedene Studien weisen auf atypische Muster neuronaler Aktivität im EEG hin, evtl. auch einer verlangsamten frontalen Hirnstromaktivität und / oder Auffälligkeiten in den kortikalen und subkortikalen Strukturen in der Magnetresonanztomografie (MRT).

Grundsätzlich sollte die Behandlung der ADHS individualisiert und multimodal durchgeführt werden. Mögliche Behandlungsbausteine sind je nach Alter Elterntraining, Psychotherapie, Medikation sowie psychosoziale Interventionen. Medikation soll hierbei primär die Kernsymptomatik der ADHS reduzieren.
Bei stark ausgeprägter Symptomatik wird häufig eine pharmakologische Behandlung empfohlen, u.a.  als Voraussetzung für eine erfolgreiche Umsetzung von psychotherapeutischen und pädagogischen Maßnahmen.

Diese Empfehlung greift schon bei Kindern im Vorschulalter, wobei Studienergebnisse auf eine im Vergleich zu Schulkindern geringere Wirksamkeit bei gleichzeitig schlechterer Verträglichkeit hindeuten.

Die verfügbaren Präparate zur pharmakologischen Behandlung lassen sich in Stimulanzien (Methylphenidat und Amphetamine) und Nichtstimulanzien (Atomoxetin und Guanfacin) aufteilen, wobei nach Studienlage Stimulanzien den Nichtstimulanzien in Bezug auf die Effektstärke überlegen sind. Dabei ist Methylphenidat im Kindes- und Jugendalter laut einer Metastudie die verträglichste Variante. In Deutschland sind diese bei Kindern ab 6 Jahren zugelassen.

Bei der pharmakologischen Behandlung werden langwirksame Präparate, aufgrund der besseren Adhärenz und des nicht abrupt wegfallendenden Medikamentenspiegels, auch bereits zu Beginn der Behandlung den kurzwirksamen Präparaten vorgezogen.
Zu den häufigeren Nebenwirkungen zählen verminderter Appetit, Reizbarkeit, Erhöhung von Puls und Blutdruck und Schlafstörungen. 

In diversen Studien wurde untersucht, dass die Verringerung der ADHS-Kernsymptomatik und eine Verbesserung der allgemeinen Lebensqualität durch pharmakologische Behandlungen erreicht werden können. Auch gibt es Hinweise darauf, dass es bei Jugendlichen zu weniger Notfallkontakten im Krankenhaus kommt (Trauma, Suizidalität, Drogenmissbrauch und unbeabsichtigte Verletzungen) und das Risiko für Substanzmissbrauch gesenkt werden kann.

Die kurzfristige Wirksamkeit, Verträglichkeit und Sicherheit wurden durch zahlreiche randomisierte kontrollierte Studien belegt. Bisher jedoch fehlten solide Daten zur Langzeitsicherheit von Methylphenidat, sodass die Weltgesundheitsorganisation (WHO) die Aufnahme in die Liste der unentbehrlichen Arzneimittel ablehnte und Bedenken hinsichtlich der langfristigen Sicherheit äußerte. Auch der Ausschuss für Humanarzneimittel (CHMP) die Europäische Arzneimittelagentur (EMA) forderte die Erhebung weiterer Daten zur langfristigen (≥52 Wochen) Auswirkungen des Arzneimittels auf Wachstum und Entwicklung, neurologische Gesundheit, psychische Gesundheit, sexuelle Entwicklung und Fruchtbarkeit sowie kardiovaskuläre Reaktionen bei Kindern und Jugendlichen.

Wie man hier sehen kann, oder selbst recherchieren kann, gibt es schon viel Wissen zu ADHS und auch einige Langzeitstudien zur Wirksamkeit und den möglichen Auswirkungen der pharmakologischen Therapie nach den Leitlinien.

Gleichzeitig gibt es gute Dokumentationen, Berichte, die leider nur auf erzählter Evidenz beruhen und eine ganz andere Seite der pharmakologischen Wirkungen darstellen.

Nicht zuletzt gibt es viele Patienten mit der Diagnose ADHS, die Sortenabhängig, sehr gute Erfahrungen mit einer Cannabistherapie machen. Ein Medikament, das ebenfalls nicht ohne Nebenwirkungen ist, aber weit hinter den Berichten der Pharmatherapiepatienten zurücksteht.

Leider fehlt es auch hier an aussagekräftigen, wissenschaftlich fundierten Studien. Zu hoffen bleibt, dass diese nun endlich mit dem erleichterten Zugang zu Cannabis als Medikament durch die Herausnahme aus dem BTM durchgeführt werden. Denn schon die Diagnose ADHS ist mit einer deutlichen Stigmatisierung der Betroffenen und ihrer Familien verbunden, die Einnahme von Cannabis als Medikament durch Betroffene wird daher noch weniger als aussagekräftig betrachtet als bei anderen Indikationen. So sollte insbesondere hier Forschung initiiert werden, die eine evidenzbasierte Empfehlung zu einer Cannabistherapie ermöglichen.

Quellen:
Journal of the American Academy of Child & Adolescent Psychiatry (2024; DOI: 10.1016/j.jaac.2023.05.025
JAMA Network Open (2024; DOI: 10.1001/jamanetworkopen.2024.2859
American Journal of Psychiatry (2024; DOI: 10.1176/appi.ajp.20230026
Tomal Dilara et al.: ADHS – ein praxisorientierter Überblick; DOI 10.1055/a-2156-2325; ISSN 2942-4666
Zhang L et al. JAMA Psychiatry 2023; DOI: 10.1001/jamapsychiatry.2023.4294
Cortese S, Fava C. JAMA Psychiatry 2023; DOI: 10.1001/jamapsychiatry.2023.4126
Wendel et al. Longitudinale, multizentrische Studie; Nachwirkungen des Cannabiskonsums auf die neuropsychologische Funktion; https://doi.org/10.1016/j.cogdev.2021.101072

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