Die Kluft zwischen gesetzlichen Möglichkeiten und medizinischer Realität

Der Marburger Bund Nordrhein-Westfalen/Rheinland-Pfalz hat sich jüngst für eine Überarbeitung des Cannabis-Gesetzes ausgesprochen und dabei auf bedenkliche Entwicklungen hingewiesen: Während der Import von Medizinal-Cannabis zwischen dem ersten und zweiten Quartal 2024 um 170 Prozent gestiegen ist, nahmen die Verschreibungen zulasten der gesetzlichen Krankenversicherung im selben Zeitraum nur um neun Prozent zu. Diese Diskrepanz wirft wichtige Fragen zur aktuellen Praxis der Cannabis-Medikation in Deutschland auf und offenbart ein System, das zwischen medizinischen Notwendigkeiten und bürokratischen Hürden gefangen ist.

Die rechtlichen Grundlagen: Theorie und Praxis

Seit 2017 dürfen Ärzte in Deutschland Cannabis als Medikament verschreiben (§ 31 Abs. 6 SGB V). Was zunächst als wichtiger Fortschritt für schwerkranke Patienten betrachtet wurde, stellt sich in der praktischen Umsetzung als komplex und hürdenreich dar. Das Gesetz sieht vor, dass Cannabis nur dann verordnet werden darf, wenn „eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung nicht zur Verfügung steht oder im Einzelfall nicht zweckmäßig ist“.

Diese Formulierung bedeutet konkret: Es darf objektiv keine Alternative denkbar sein, oder nach subjektiver Einschätzung des Arztes darf keine Alternative sinnvoll einsetzbar sein. Bei welchem anderen Medikament gelten derart restriktive Bedingungen?

Die bürokratischen Herausforderungen: Komplexe Anforderungen in der Praxis

Anforderungen an die ärztliche Begründung

Die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts vom 10. November 2022 (Az: B 1 KR 28/21 R) definiert präzise, was eine „begründete Einschätzung“ beinhalten muss. Der behandelnde Arzt muss eine dem Sachbearbeiter der Krankenkasse verständlich dargelegte Dokumentation erstellen, die folgende Punkte umfasst:

  • Vollständige Dokumentation des Krankheitszustandes mit bestehenden Funktions- und Fähigkeitseinschränkungen
  • Darstellung der zu behandelnden Erkrankungen, Symptome und des angestrebten Behandlungsziels
  • Auflistung bereits angewendeter Standardbehandlungen und deren Erfolg bzw. Nebenwirkungen
  • Analyse noch verfügbarer Standardtherapien und deren zu erwartender Erfolg
  • Begründung, warum unter Abwägung der Nebenwirkungen Cannabis in Frage kommt

Diese umfangreiche Dokumentation, die über das hinausgeht, was bei anderen Medikamenten erforderlich ist, wird dem Arzt nicht vergütet. Mediziner, die bereits mit den Herausforderungen eines unter Ressourcendruck stehenden Gesundheitssystems, Personalmangel und steigenden bürokratischen Anforderungen konfrontiert sind, sehen sich einer zeitaufwendigen Zusatzaufgabe gegenüber, die ihre Bereitschaft zur Cannabis-Verordnung beeinträchtigen kann.

Der steinige Weg zur Genehmigung

Der Weg zu einer Cannabis-Medikation folgt in Deutschland einem mehrstufigen Verfahren:

  1. Antragstellung durch den Patienten unter Vorlage der ärztlichen Einschätzung
  2. Genehmigung oder Ablehnung durch die Krankenkasse (oft nach Rückfrage beim Medizinischen Dienst)
  3. Widerspruchsverfahren bei Ablehnung
  4. Bei erfolglosem Widerspruch: Klage beim Sozialgericht
  5. Mögliche weitere Instanzen bis zum Bundessozialgericht

Während dieses Verfahrens, das Monate dauern kann, müssen Patienten mit als ungeeignet erachteten Standardtherapien weiterleben oder die Kosten für Cannabis-Medikamente selbst tragen.

Krankenkassen: Zwischen Kostenkontrolle und Patientenwohl

Ablehnungspraxis und Wirtschaftlichkeitsprüfung

Nach Erfahrungen von Praktikern werden trotz der gesetzlichen Vorgabe, dass Krankenkassen nur „ausnahmsweise“ ablehnen dürften, viele Anträge abgelehnt. Aus der Praxis wird berichtet, dass Anträge häufig an formal unvollständigen Angaben oder nicht aufgeführten Standardtherapien scheitern, auch wenn die medizinische Notwendigkeit nach ärztlicher Einschätzung gegeben ist.

Als besondere Herausforderung erweisen sich nach Angaben von Medizinern die Wirtschaftlichkeitsprüfungen der Krankenkassen. Selbst bei medizinisch begründeter Verordnung können Anträge abgelehnt werden, wenn kostengünstigere Alternativen verfügbar scheinen. Ärzte berichten, dass die dabei vorgelegten Kostenberechnungen teilweise Fehler oder Unvollständigkeiten aufweisen, was weitere zeitraubende Korrekturen erfordert.

Die Grenzen der Genehmigung

Das Bundessozialgericht stellte unmissverständlich klar: „Die Genehmigung der Krankenkasse beinhaltet keine Feststellung der Wirtschaftlichkeit der vorgesehenen Verordnung.“ Eine Genehmigung bestätigt lediglich das Vorliegen der Verordnungsvoraussetzungen nach § 31 Abs. 6 SGB V, bietet aber keinen Regressschutz bezüglich der Wirtschaftlichkeit.

Fachärzte ohne Sicherheit: Das Paradox der Entbürokratisierung

§ 45 Abs. 3 AMR: Scheinbare Erleichterung

Mit der Einführung des § 45 Abs. 3 der Arzneimittel-Richtlinie entfiel für qualifizierte Fachärzte die Genehmigungspflicht. Was als Erleichterung gedacht war, erwies sich als Trugschluss: Die Diskussion verlagerte sich lediglich vom Antrags- in ein Regressverfahren.

Das Damoklesschwert des Regresses

Fachärzte können nun zwar ohne vorherige Genehmigung Cannabis verordnen, leben aber mit dem ständigen Risiko einer nachträglichen Regressforderung. Ein Arzt, der über ein bis zwei Jahre Cannabis-Medikation verordnet, kann am Ende deren gesamte Kosten aus eigener Tasche an die Krankenkasse erstatten müssen. Dieses finanzielle Risiko kann existenzbedrohend sein.

Aktuelle Entwicklungen: Zwischen Missbrauch und medizinischer Notwendigkeit

Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache

Die vom Marburger Bund zitierten Zahlen des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte sind bemerkenswert: Ein Anstieg der Cannabis-Importe um 170 Prozent bei nur neun Prozent mehr kassenfinanzierten Verschreibungen könnte nach Einschätzung des Bundesgesundheitsministeriums auf eine problematische Entwicklung hindeuten.

Online-Verschreibungen als Grauzone

Die Kritik des Marburger Bundes an Online-Plattformen, die Cannabis per Telemedizin verschreiben, wirft wichtige Fragen zur Qualitätssicherung auf. Wenn das medizinische System zur Versorgung von Freizeitkonsumenten genutzt wird, könnte dies die ursprünglichen Ziele der Regelung konterkarieren.

Die Folgen für Patienten und Ärzte

Versorgungsherausforderungen trotz gesetzlicher Möglichkeiten

Die komplexe Regulierung könnte paradoxerweise zu einer Unterversorgung jener Patienten führen, für die Cannabis-Medikation ursprünglich zugänglich gemacht wurde. Schwerkranke Menschen, die möglicherweise von einer Cannabis-Therapie profitieren könnten, stehen vor bürokratischen Hürden oder verzichten unter Umständen resigniert auf diese Behandlungsoption.

Auswirkungen auf die ärztliche Praxis

Die hohen Anforderungen, das Regressrisiko und der umfangreiche bürokratische Aufwand können dazu führen, dass Ärzte auf Cannabis-Verordnungen verzichten oder diese ausschließlich als Privatleistung anbieten. Dies könnte die bereits bestehenden Unterschiede im Gesundheitssystem verstärken.

Reformbedarf: Zwischen Kontrolle und Zugänglichkeit

Notwendige Strukturreformen

Das aktuelle System bedarf dringender Reformen:

  1. Vereinfachung der Dokumentationsanforderungen bei gleichzeitiger Qualitätssicherung
  2. Rechtssicherheit für verordnende Ärzte durch klare Regeln und Regressschutz
  3. Beschleunigte Genehmigungsverfahren mit definierten Fristen
  4. Qualitätskontrolle bei Online-Verschreibungen zur Verhinderung von Missbrauch

Das Dilemma der Politik

Die Politik steht vor einem Dilemma: Einerseits soll schwerkranken Patienten der Zugang zu Cannabis-Medikation ermöglicht werden, andererseits muss Missbrauch verhindert und Kostenkontrolle gewährleistet werden. Die bisherigen Lösungsansätze haben diesen Spagat nicht erfolgreich bewältigt.

Fazit: Ein System mit Reformbedarf

Die aktuellen Regelungen zur Cannabis-Medikation in Deutschland führen zu einer paradoxen Situation: Während möglicherweise Freizeitkonsumenten über Online-Kanäle leichteren Zugang zu Cannabis finden, kämpfen schwerkranke Patienten mit bürokratischen Hürden und Wartezeiten. Ärzte, die nach ihrer fachlichen Kompetenz medizinische Entscheidungen treffen sollten, sehen sich durch Regressrisiken und bürokratische Anforderungen unter Druck gesetzt.

Die vom Bundesgesundheitsministerium geplanten Reformen sind ein wichtiger Schritt, adressieren aber möglicherweise nur einen Teil der bestehenden Herausforderungen. Es scheint eine grundsätzliche Überarbeitung des Systems erforderlich, die sowohl den berechtigten Anspruch schwerkranker Patienten auf optimale medizinische Versorgung berücksichtigt als auch problematische Entwicklungen effektiv verhindert.

Wenn die Einschätzungsprärogative der Ärzte durch übermäßige bürokratische Kontrollen eingeschränkt wird, könnte dies nicht nur dem Berufsstand schaden, sondern vor allem den Patienten, die auf eine sachgerechte medizinische Versorgung angewiesen sind.

Es erscheint notwendig, eine sachliche Diskussion über die Zukunft der Cannabis-Medikation in Deutschland zu führen – eine Diskussion, die sich primär an den medizinischen Bedürfnissen der Patienten orientiert und praktikable Lösungen für die identifizierten Probleme entwickelt.

 

Quellen: 

Bundessozialgericht (BSG), Urteil vom 10. November 2022 – Az. B 1 KR 28/21 R
Präzisiert die Anforderungen an eine ärztliche Begründung bei Cannabis-Verordnung nach § 31 Abs. 6 SGB V.
Volltext über Rewis

Begutachtungsgrundlagen Cannabinoide – Medizinischer Dienst Bund, Stand April 2024
Sozialmedizinische Kriterien zur Bewertung der Verordnungsvoraussetzungen.
Download MD-Bund

Bundessozialgericht, Urteil vom 26. März 2025 – Az. B 6 KA 2/24 R
Bestätigt die Regressmöglichkeit bei unwirtschaftlicher oder nicht ausreichend dokumentierter Cannabisverordnung.
sozialgerichtsbarkeit.de

Medizinal-Cannabisgesetz (MedCanG), in Kraft seit 1. April 2024
Regelt u.a. Anbau, Abgabe, Genehmigung und Versorgung schwerkranker Patient:innen mit Cannabisarzneimitteln.
Wikipedia-Übersicht

Marburger Bund – Stellungnahme vom Juli 2025
Kritik an der Teillegalisierung von Cannabis aufgrund Import- und Verschreibungsentwicklung.
marburger-bund.de