von Olivia Mantwill (Drogen- und Suchtsoziologin (M.A. univ.)) in Ausbildung zum SVCM
Erst kürzlich erschien die abschließende Auswertung der Cannabis-Begleiterhebung durch das BfArM, die seit Einführung des Gesetzes „Cannabis als Medizin“ 2017 verpflichtend von Cannabis verschreibenden Ärzten durchgeführt wurde. Darin wird unter anderem thematisiert, dass die demografischen Ergebnisse der Verschreibungen „die Frage nach Abgrenzung zwischen tatsächlich therapeutischen Effekten und erlebter Steigerung des Wohlbefindens bei hoher Abhängigkeitsgefahr“ aufwerfe (BfArM 2022). Im Klartext wird also vom Ministerium ein (hoher) Missbrauchsanteil von Cannabispatienten vermutet. Doch wie realistisch und vor allem für die künftige Politik relevant ist dieser Verdacht?
Seit Jahrzehnten steigt die Anzahl der freizeitlichen Cannabiskonsumenten – nicht nur in Deutschland – an, besonders unter jungen Menschen (Karachaliou etal. 2020), was sich auch auf nachfolgende Generationen zunehmend auswirkt. Im europäischen Vergleich liegt Deutschland selbst mit diesem Trend und auch bezüglich der absoluten Zahlen vollkommen im Durchschnitt (Atzendorf et al. 2019). Indessen brach kurz nach der medizinischen Teillegalisierung die Zahl der Handelsdelikte bezüglich Cannabis kurzfristig ein, stieg danach jedoch wieder in unverändertem Trend (Bundeskriminalamt 2021, S. 14) – „trotz“ der medizinischen Legalisierung, wenn den Andeutungen des BfArM nachgegangen würde. Fraglich ist daher, wie hoch der Einfluss einer medizinischen, ganzheitlichen oder wie auch immer gearteten Legalisierung auf das Konsumverhalten der Bevölkerung tatsächlich ist. Eine wissenschaftliche Abhandlung dazu wäre sicher interessant; vorerst gibt es zumindest einen sehr gut recherchierten Artikel zum Vergleich mehrerer Länder (Kagermeier 2021). Selbst bei einer reinen Recherche der politischen Umstände und Konsumentenzahlen wird dabei deutlich, dass – Achtung, klare Worte der Unklarheit – einfach niemand wissen kann, wie sich eine Legalisierung in Deutschland auf das Konsumentenverhalten auswirken wird. Und, das ist der erste Schluss, dies bezog sich genauso auf die Einführung des medizinischen Cannabis‘, und erlaubt auch trotz der Endergebnisse der Begleiterhebung lediglich den Blick auf die statistisch unterschiedlich auswertbaren Zahlen und vage Vermutungen.
Nun stehen also auf der einen Seite seit Jahrzehnten steigende Zahlen von Cannabiskonsumenten, auf der anderen Seite die in ebendiesem Zeitraum unveränderte Rechtslage in Deutschland. Zugleich liegen die Zahlen im europäischen Vergleich im Mittel und haben sich seit der medizinischen Legalisierung langfristig in ihrem Trendverhalten nicht verändert. Dem entgegen steht die offensichtliche Befürchtung des Ministeriums, dass medizinischer Cannabis für (in diesem Zusammenhang schon allein wegen der Zweckgebundenheit von Cannabis als Medikament missbräuchlichen) Freizeitkonsum genutzt werden könnte. Wie würde sich dieser – falls vorhandene – Umstand bei der anstehenden Legalisierung ändern? Diese kann ja auch ganz unterschiedlich ausgestaltet werden.
Fakt ist jedenfalls: Der Legalisierungsstatus in diversen Ländern sagt bisher mittelfristig wenig bis gar nichts über die Anzahl und den Trend der Konsumentenzahlen aus. Sicherlich ist nicht auszuschließen, dass aktuell mancher Freizeitkonsument die medizinische Rechtslage in Deutschland nutzt, um sein Konsumverhalten sicherer zu gestalten – jedoch haben sich eben die Zahlen auf dem Schwarzmarkt seit 2017 bis auf den kleinen Einbruch nach Einführung des Gesetzes unverändert fortentwickelt. Daraus lässt sich ableiten, dass auch die medizinische Teillegalisierung wenn überhaupt einen verschwindend geringen Anteil an freizeitlichen Konsumenten direkt betrifft. Welchen Einfluss dann eine nicht-medizinische Legalisierung hätte, lässt sich aufgrund des an deutsches Recht angepassten Modells, der (konsum-) kulturellen Unterschiede zu anderen Ländern und sich ständig wandelnder Lebensumstände der Bevölkerung, die einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf Konsumverhalten haben (bspw. existieren schon erste Studien zu Corona und Alkohol-, Cannabis- und Warenkonsum), kaum vorhersagen.
Insofern sollten die Zahlen zum medizinisch verschriebenen Cannabis nicht allzu sehr mit freizeitlichem Konsum verknüpft werden – selbstverständlich spielt Medikamentenmissbrauch eine gewichtige Rolle in der Medizin und Therapie und sollte dort auf jeden Fall ernst genommen und behandelt werden. Als Argument für oder gegen eine Nutzung als Medikament oder gar zur Einbringung in die Legalisierungsdebatte eignen sich die vom BfArM festgestellten Sachverhalte jedoch kaum. Essentiell wichtig für den zukünftigen Umgang und die Bewertung von Cannabiskonsum im Gesamten ist daher eine strikte Trennung von Cannabis als Medizin und Cannabis zum Freizeitgebrauch: Jede Konsumform bringt andere Begleiterscheinungen, Möglichkeiten und Risiken mit sich und sollte daher anders behandelt werden. Zu guter Letzt sollte auch berücksichtigt werden, dass das medizinische Cannabis mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit (zumindest bei einer „sauberen“, ordentlich durchgeführten, Konsumenten schützenden Verwirklichung) ab dem Zeitpunkt der Legalisierung ohnehin nicht mehr von Freizeitkonsumenten in Anspruch genommen werden wird. Insofern wird sich dann erstens zeigen, ob sich die Zahlen der Cannabispatienten ändern, und zweitens wird sich damit die Frage des BfArM nahezu zweifelsfrei klären lassen, inwieweit Cannabis als Medikament tatsächlich bis dato missbrauch wurde. Bis dahin nützen alle Spekulationen nichts.
Quellen:
Atzendorf, J.; Rauschert, C.; Seitz, N. N.; Lochbühler, K.; Kraus, L. (2019): Gebrauch von Alkohol, Tabak, illegalen Drogen und Medikamenten. In: Deutsches Ärzteblatt 116 (35-36), S. 577–584. Online verfügbar unter hier bei ResearchGate.
BfArM (2022): Abschlussbericht der Begleiterhebung nach § 31 Absatz 6 des Fünften Buches Sozialgesetzbuch zur Verschreibung und Anwendung von Cannabisarzneimitteln. Online verfügbar hier beim BfArM
Bundeskriminalamt (2021): Bundeslagebild Rauschgiftkriminalität 2020.
Kagermeier, Elisabeth (2021): Nimmt Cannabis-Konsum nach einer Legalisierung zu? Ein #Faktenfuchs. In: BR24, 26.10.2021. Online verfügbar hier beim BR24.
Karachaliou, K.; Seitz, N.-N.; Neumeier, E.; Schneider, F.; Tönsmeise, C.; Friedrich, M.; Pfeiffer-Gerschel, T. (2020): Drogen. Workbook Drugs. DEUTSCHLAND. Bericht 2020 des nationalen REITOX-Knotenpunkts an die EMCDDA (Datenjahr 2019 / 2020). Hg. v. DBDD. European Monitoring Centre for Drugs and Drug Addiction (EMCDDA).